17.04.2024

Deutschland: Wer geht, verliert alles

Zwei TV-Dokumentationen zeigen die eigenartige Welt von zwei christlichen Sondergemeinschaften: den Zeugen Jehovas und den Amishen, IDEA Reporter Karsten Huhn hat die Filme gesehen.

Fast jeder wurde von ihnen schon mal besucht. Die Zeugen Jehovas sind bekannt für ihre Haustürmission, sie ist für jedes Mitglied Pflicht. Die Besuche gelten als das Herzstück der Organisation und werden intern als „Predigtdienst“ bezeichnet. Die Dokumentation „Die Zeugen Jehovas: Bibelfest, freundlich, kompromisslos“ des französischen Filmemachers Vincent Néquache erzählt mit hohem Tempo von der Sondergemeinschaft, die heute weltweit etwa acht Millionen Mitglieder hat; darunter 170.000 in Deutschland. Die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründete Glaubensgemeinschaft bezeichnete sich zunächst als „Bibelforscher“ und benannte sich später um in „Zeugen Jehovas“. Für 1914 kündigten sie den Weltuntergang an, ein weiteres Mal für 1975. Zu Wort kommen in dem Film vor allem Aussteiger. Sie berichten ausnahmslos Schreckliches: Eng und streng sei die Gemeinschaft, sie übe totale Kontrolle und Zensur. Jeder, der nicht zu den Zeugen gehöre, so die Lehre der Zeugen, werde in der Schlacht von Armageddon getötet. Wer nicht mehr zur Bewegung gehören wolle, werde von Familie und Freunden verstoßen.

Korrekte Kleidung, klebrige Theologie

Äußerlich achten die Zeugen Jehovas auf korrekte Kleidung. Die Männer tragen bei ihren Missionseinsätzen meist Anzug und Krawatte, die Frauen Kleider. Abgesehen von den „Predigtdiensten“ halten sich die Zeugen Jehovas von Nicht-Mitgliedern fern: Freundschaften pflegen sie nur innerhalb der Gemeinschaft. Das erzeugt einen hohen Klebeeffekt. Umso schwerer fällt ein Austritt: Wer geht, verliert zunächst alles. Geleitet werden die Zeugen Jehovas von einer „Leitenden Körperschaft“ in New York, die derzeit aus acht Personen besteht. „Die Bibel war dort nebensächlich, es ging hauptsächlich um die Regeln der Organisation“, sagt Raymond Franz. Er war von 1971 bis 1980 leitendes Mitglied, wurde ausgeschlossen und schrieb danach zwei kritische Bücher über die Zeugen Jehovas. Äußerst kurz abgehandelt wird die Haltung der Zeugen Jehovas während des Nationalsozialismus: Weil sie sich Hitler nicht beugten, kamen sie in die Vernichtungslager – ausgestattet mit einem lila Dreieck als Erkennungszeichen. Charakteristisch für die Zeugen ist die Verquickung von Bibel, Gesetzlichkeit und skurrilen Sonderregeln: Geburtstage und Weihnachten feiern sie nicht; Bluttransfusionen lehnen sie ab – auch wenn das im Notfall das Leben kosten kann.

„Ein Paradies für Pädophile“

Breiten Raum nimmt in der Dokumentation die Vertuschung von sexueller Gewalt an Kindern bei den Zeugen Jehovas ein: Weltliche Gerichte schaltet die Gemeinschaft nicht ein. Um intern einen Täter zur Rechenschaft zu ziehen, müssen zwei Mitglieder die Tat bezeugen; die Aussage eines Kindes reicht nicht aus. Diese Geheimhaltungspolitik sei ein Freibrief für Täter, „ein Paradies für Pädophile“, sagen Betroffene von sexueller Gewalt. Die Dokumentation überzeugt mit ihrer Faktendichte – sie weist jedoch auch eine Schwäche auf: Die Zeugen Jehovas selbst kommen nicht zu Wort. Gerne hätte man gehört, wie sie ihre Theologie begründen und was sie auf Kritik erwidern.

Schlichte Kittel, wilde Bärte

Sie fahren Pferdekutsche statt Auto, ihre Häuser haben weder Strom noch Telefon und schon gar kein Internet. Sie leben zurückgezogen als Farmer, melken ihre Kühe per Hand und holen ihre Ernte ohne Mähdrescher ein. Romantisch wirken die Landschaftsaufnahmen der Dokumentarfilmerin Melanie van der Ende in den US-Bundesstaaten Pennsylvania und Ohio. Im 19. Jahrhundert waren die Amischen aus Deutschland, Elsass und der Schweiz dorthin ausgewandert. Heute gibt es etwa 360.000 Amische. Sie sind meist kinderreich, die Frauen tragen schlichte Kittel und Hauben, die Männer Hüte und wilde Bärte. Ihr Name leitet sich ab von ihrem Begründer Jakob Ammann (1644–1730), einem Schweizer Mennonitenprediger. (Der Name der Mennoniten wiederum leitet sich ab vom niederländisch–friesischen Pfarrer Menno Simons (1496–1561); aber das ist eine andere Geschichte.) Die Dokumentation bietet interessante Einblicke in die sonderbare Welt der Amischen: Sie leben Einfachheit statt Reichtum, Arbeit statt Müßiggang. Ihre Regeln wirken skurril, aber nicht bedrohlich: Der Gebrauch einer Nähmaschine ist gestattet, eine Waschmaschine dagegen nicht; ein Sonnenkollektor ist erlaubt, ein Traktor nicht – aber drei Dörfer weiter können bei anderen Amisch-Familien schon wieder andere Regeln gelten. Als Zeichen von Demut und Bescheidenheit kommt ein Vertreter der Amischen barfuß zum Gespräch. Sein Gesicht filmen lassen, möchte er nicht: „Das würde den Blick zu sehr auf uns selbst richten.“ Frauen dürfen arbeiten, bis sie verheiratet sind oder das erste Kind bekommen, danach kümmern sie sich um Kinder und Haushalt. Die Amischen haben eigene Schulen und eigene Schulbücher; gelehrt wird die Bibel. Die Schulpflicht reicht nur bis zum 14. Lebensjahr – staatlich genehmigt. „Wir werden niemals Mediziner, Tier- oder Zahnarzt“, sagt ein Lehrer. Wenn die Amischen krank werden, benötigen sie einen Arzt, der nicht Teil ihrer Glaubensgemeinschaft ist.

 

Die Stadt als Versuchung

Man staunt, welche Sonderregeln in der Welt der Amischen mitunter doch möglich sind: So darf ein amischer Möbelhandwerker, der mit seinen handgefertigten Tischen und Stühlen ganz Amerika beliefert, für seine Buchhaltung ausnahmsweise einen Computer verwenden, so lange er nicht mit dem Internet verbunden ist. Auch ein Handy darf er benutzen, aber nur ein altes Modell. In Ausnahmefällen ist Amischen auch die Fahrt mit einem Mietwagen erlaubt, sofern man das Auto nicht selbst fährt. Vieles in der Welt könnte in die Sünde führen, denken sich die Amischen. So meiden sie die Welt so weit es geht. Sie leben weitgehend als Selbstversorger. Auf Mission verzichten sie, und Städte meiden sie – zu groß ist dort die Versuchung.
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten“, heißt es im 1. Korintherbrief 10,23. Die Amischen scheinen das Prinzip umgekehrt haben: Vieles ist ihnen verboten, aber manches könnte doch ganz nützlich sein. Die Amischen meiden Alkohol und machen keinen Urlaub – aber auch hier gibt es ein Schlupfloch, und wenn man dann schon mal in der Ferienwohnung ist, darf man auch Fernsehen schauen, was eigentlich ebenfalls verboten ist, weshalb man dann nur Landwirtschafts- und Musiksendungen sieht. Unklar bleibt in der Dokumentation, nach welchen Kriterien all diese Regeln eigentlich festgelegt werden. Auf den ersten Blick sind die Amischen und die Zeugen Jehovas grundverschieden. Eines allerdings ist ihnen gemeinsam: Ihre Gemeinschaft zu verlassen ist sehr schwierig.

Erstausstrahlung auf 3SAT | Mittwoch, 17. April, 20.15 Uhr „Die Zeugen Jehovas: Bibelfest, freundlich, kompromisslos“ | im Anschluss „Die Welt der Amish – Tradition und Versuchung“, 21 Uhr