25.04.2024

Israel: Seltene Einblicke in den Gazastreifen

Journalist: „Palästinenser sind Geiseln der Hamas“

Sami Obeid ist einer der wenigen Journalisten im Gazastreifen, die mit israelischen Medien reden. Deutlicher als in der Vergangenheit kritisierte er in seinem jüngsten Interview seine Führung: Die Menschen in Gaza seien Geiseln der Hamas.

Von Israelnetz/25. April 2024

GAZA (inn) – Noch während des Gaza-Konfliktes im Mai 2021 stellte der heute 65-jährige Journalist Sami Obeid der Hamas ein gutes Zeugnis aus. Im Interview der israelischen Zeitung „Ha’aretz“ lobte er die Terrorgruppe für ihre Innenpolitik. Nirgendwo sonst auf der Welt gebe es eine solche „innere Sicherheit“. Obwohl Araber gerne stritten, gebe es keine Auseinandersetzungen im Gazastreifen und keine Kriminalität in den Städten.

Drei Jahre und einen Krieg später kritisiert Obeid die Hamas offen. Die Hoffnung besteht, dass er ausspricht, was viele insgeheim denken.

Früher war es besser

Obeid spricht fließend Hebräisch. In den Achtzigerjahren lebte er acht Jahre lang in Tel Aviv – der „schönsten Stadt Palästinas“, wie er sagt. Damals konnte er sich frei zwischen Gaza, Jerusalem und Ramallah bewegen. Es war die Zeit nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967, als Israel sämtliche eroberte Gebiete allein verwaltete. Reisebeschränkungen verhängte Israel erst im Jahr 2000 nach dem Ausbruch der „Zweiten Intifada“.

Der Gazastreifen wurde im Jahr 2007 abgeriegelt. 2005 zog Israel sein Militär und gegen ihren Willen die gesamte jüdische Zivilbevölkerung von dort ab. Die Hamas wurde als Regierung gewählt. Daraufhin schaltete die Terrorgruppe die politische Opposition in ihrem Herrschaftsgebiet aus und begann den Terror gegen Israel. Seither sitzt Obeid im Gazastreifen fest. Die guten alten Zeiten sind vorbei.

Alles zerstört

Obeid lebte im nördlichen Gazastreifen. Nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober und dem Ausbruch des Krieges folgte er den israelischen Anweisungen und floh am 11. Oktober mit seiner Familie in den Süden. „200 Meter von meinem früheren Wohnort entfernt standen 15 Hochhäuser“ erzählt Obeid. „Sie wurden innerhalb von zwei Tagen dem Erdboden gleichgemacht.“ Verletzt wurde dabei niemand. Eine alte Frau, die sich ohne Hilfe kaum bewegen konnte, sei die letzte gewesen, die rechtzeitig aus den Hochhäusern evakuiert wurde.

Die Situation in Gaza beschreibt Obeid als desaströs. Es gebe „keine Krankenhäuser, keine Moscheen, keine Schulen oder Universitäten, keinen Strom“. Die Menschen warteten darauf, in ihre niedergebrannten Häuser im Norden zurückzukehren. Sie wollen alles wiederaufbauen. Er selbst habe ein Haus für 550.000 US-Dollar gekauft und 30 Jahre darin gelebt – 170 Meter von einem wunderschönen Strand entfernt. Jetzt stünden nur noch die Wände.

In seinem Interview 2021 gab er an, im fünften Geschoss eines mehrstöckigen Gebäudes zu wohnen. Die Armut im Gazastreifen sei furchtbar. Seine fünf Söhne seien alle arbeitslos. Vielleicht, aber nur vielleicht, war das Halbe-Million-Dollar-Haus direkt am Strand lediglich ein ferner Wunschtraum, der nun einmal mehr zerstört wurde.

Überleben in Rafah

Zurzeit lebt Obeid mit seiner Familie im Hause seines Schwagers in Rafah. Die Stadtbevölkerung sei über Nacht von 300.000 auf anderthalb Millionen angewachsen. Es fehle an Strom, Wasser, Bargeld, Treibstoff und Zigaretten. „Wer in Häusern lebt“, berichtet Obeid, „versucht mit Solarpaneelen Strom zum Kochen zu erzeugen, da weder Israel noch Ägypten die Einfuhr von Brennstoff zulassen.“

Weiter beschreibt er die Lage: „Kühlschränke funktionieren nicht, Lichter funktionieren nicht. Besonders schlimm ist die Situation für die Bewohner dieser Lager, in denen es kein fließendes Wasser und keine sanitären Einrichtungen gibt. Um ihre Notdurft zu verrichten, graben sie oft Löcher in den Boden und verdecken diese dann.“

 

Natürlich seien auch Hamas-Leute mit den Flüchtlingen aus Gaza nach Rafah gekommen. Die wenigen „Hamas-Polizeikräfte“ konzentrierten sich auf den Grenzübergang. Dort nähmen sie die eintreffenden Waren entgegen und kontrollierten sie. Auch wer den Gazastreifen verlassen wolle, müsse „am Innenministerium vorbei“ und mindestens 5.000 Dollar zahlen. Sie könnten dann „eine Reise nach Ägypten unternehmen“ und ein paar Monate „Urlaub“ machen, bis der Krieg vorbei sei.

Einkommen und humanitäre Hilfe

Humanitäre Hilfe komme an. Aber es sei nicht wie im Supermarkt, wo man sich die Waren aussuchen könne. „Die meisten Menschen, die ich in Rafah sehe, leben von Geldern, die von außerhalb Gazas kommen“, erklärt Obeid, „von Familienangehörigen und Freunden im Ausland. Niemand arbeitet und alles ist sehr teuer geworden. Eine Packung Zigaretten kostet heute 500 Schekel (124 Euro). Vor dem 7. Oktober rauchte ich täglich eine Packung.“ Heute kaufe er hin und wieder einzelne Zigaretten für den Preis einer Packung vor dem Krieg. „Israel erlaubt keine Zigaretten im Gazastreifen“, sagt er. „Sie denken, wir bauen damit Raketen.“

Obwohl niemand in der Familie arbeitet, sagt Obeid: „Wir kommen zurecht.“ Seine Frau erhält nach wie vor ihr Gehalt als Schulleiterin von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die Regierung des Westjordanlandes hat in Gaza keinerlei Mitspracherecht.

Die Hamas hat sie seit 2007 komplett von der politischen Bühne verdrängt. Dennoch zahlt die PA Zehntausenden Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Gehälter. Sie hofft, damit in der Gunst des Volkes zu steigen. Ein entsprechender Effekt ist jedoch nicht eingetreten.

„Wir sind Opfer“

Obeid ist der Überzeugung, dass „90 Prozent der Menschen in Gaza die Hamas in keiner Weise wollen“. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Traum irgendwann Wirklichkeit wird. Noch belegen Umfragen, dass die Hamas sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland die absolute Mehrheit potenzieller Wähler auf ihrer Seite hat. „Die Menschen würden die Palästinensische Autonomiebehörde der Hamas deutlich vorziehen“, sagt Obeid. Das Gegenteil ist der Fall.

Außerdem tadelt Obeid den israelischen Premier Benjamin Netanjahu (Likud) dafür, dass er die „Menschen in Gaza“ zusammen mit der Hamas für das Massaker vom 7. Oktober verantwortlich mache. „Aber wir sind die Opfer“, stellt er richtig. Umfragen widerlegen jedoch seine Wahrnehmung. Mehr als 70 Prozent der Palästinenser befürworten den Terrorakt. Obeid nicht. Er hebt das palästinensische Opfernarrativ auf eine neue Stufe, wenn er sagt: „Die Hamas wusste, dass die Menschen sie hassten und sie nicht als Herrscher haben wollten. Sie begingen den 7. Oktober aus Rache an uns, in der Erwartung, dass Netanjahu Vergeltung üben und Gaza verwüsten würde.“

Die Zivilisten seien der Hamas egal. Die Anführer seien schließlich „alle im Ausland“. Sie würden auch dann noch einen Sieg für sich proklamieren, wenn der Gazastreifen in Zukunft völlig zerstört und 70.000 Tote zu beklagen seien. Er geht davon aus, dass die Hamas an der Macht bleiben oder zurückkehren wird. Er selbst werde in diesem Fall „keinen Tag länger hier bleiben“. Denn: „Auch wir, die Menschen in Gaza, leben wie Geiseln der Hamas.“ Er hoffe auf eine Einigung und die Freilassung der Geiseln noch im April.

Die Hamas habe von Anfang an den Fehler begangen, die Palästinenser nicht die hebräische Sprache zu lehren. Stattdessen habe sie „die Menschen über ihre göttliche Mission, die Juden zu bekämpfen und Palästina zu befreien, einer Gehirnwäsche“ unterzogen. Obeid fragte sich bereits vor Jahren: „Wohin werden sie diese armen Menschen mit ihren Lügen und ihren Kriegen führen? Ich möchte nicht für ihre Sache sterben, sondern sie sterben lassen.“

„Ein-Staat-Lösung“

Im Interview 2021 schlug Obeid der israelischen Regierung vor, die Grenzen zum Gazastreifen zu öffnen und Arbeiter hereinzulassen. Das werde der Hamas den Nährboden entziehen. Die tatsächliche zunehmende Durchlässigkeit sollte für Israel am 7. Oktober dramatische Folgen haben.

Dennoch bleibt Obeid bei seiner Vision einer „Ein-Staat-Lösung“. Er denkt, dass „Netanjahus Krieg jetzt vorbei“ sei. Nun sei die größte Hoffnung der Menschen im Gazastreifen, von Israel annektiert zu werden. Juden und Palästinenser würden Bürger eines einzigen Landes sein. Obeid befürwortet sogar den Wiederaufbau von Siedlungen im Gazastreifen.

Damit ist er sich mit einigen Politikern und Bürgern in Israel einig. Diese beabsichtigen jedoch mehrheitlich nicht, den Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft und somit das Wahlrecht zu verleihen. Ihnen schwebt eher eine palästinensische Selbstverwaltung unter israelischer Aufsicht nach dem Vorbild des Westjordanlandes vor.

 

Ein weiteres Argument für eine „Ein-Staat-Lösung“ sieht Obeid im „gemeinsamen Gott“ von Juden und Muslimen. Diese Sicht begründet er mit einer einfachen Rechenaufgabe: „Zu wem betet der Jude und zu wem betet der Muslim? Beide beten zu Gott. Wie viele Götter gibt es? Einen. Also beten wir zum selben Gott.“ Juden und Muslime hätten jahrhundertelang friedlich zusammengelebt. Die Probleme hätten erst mit der Gründung des Staates Israel begonnen.

Gaza ist ein guter Ort

Nach Möglichkeit möchte Obeid im Gazastreifen bleiben. Es gebe sowieso keine Alternative. Kein Land wolle Palästinenser aufnehmen. „Ich bin 65 Jahre alt“, sagt Obeid. „Ich bin um die Welt gereist, aber ich liebe diesen Ort. Es gibt hier gute Leute, aber sie können sich nicht selbst verwalten. Sie brauchen einen Außenstehenden, der sie kontrolliert.“

Der Journalist schwärmt von der 270 Kilometer langen Küste Gazas mit wunderschönen Stränden. „Wenn die Hamas nicht an die Macht zurückkehrt, werden wir hierbleiben. Gaza ist ein guter Ort zum Leben“, sagt er und fügt hinzu: „Wir hoffen nur, dass der Schlamassel mit Israel ein Ende hat.“ (cs)