28.01.2020

Wo Europa versagt – Besuch im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos

Bericht einer Reise von Uwe Heimowski, Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz der Bundesregierung und des Bundestages für idea

Herbert Putz (links) ist Leiter des Arbeitskreises für Migration und Integration der DEA, rechts daneben: Andrea Wegener von Euro Relief, Frank Heinrich (CDU)

Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos ist heillos überfüllt. Statt 3.000 leben dort derzeit über 20.000 Flüchtlinge unter verheerenden sanitären Verhältnissen. Der Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz der Bundesregierung und des Bundestages, Uwe Heimowski, hat das Lager besucht und berichtet über seine Eindrücke.

Der kleine Flughafen in Mytilene, der größten Stadt auf der Insel Lesbos, liegt direkt am Meer. Einmal über die Straße, an der malerisch weiß getünchten Kapelle vorbei. Am Horizont, etwa 20 Kilometer entfernt, zeichnet sich die Küste der Türkei ab. Das Wasser schimmert türkisgrün und blau. Der Geruch nach Seetang, Krebsen und Salzwasser liegt in der Luft. Ruhig liegt die See, mit sanften Bewegungen schwappen die Wellen an die Felsen, die das Ufer befestigen, Gischt spritzt mir auf die Füße.

Zwischen zwei Steinen klemmt eine Rettungsweste. Mit einem Ruck ist mein Traum vom Urlaubsparadies verflogen, die Weste holt mich zurück auf die andere Seite der Wirklichkeit. Ich reise mit Frank Heinrich (CDU), Abgeordneter des Deutschen Bundestags, und Herbert Putz, Referent für Migration und Integration der Deutschen Evangelischen Allianz. Wir wollen uns ein Bild über die Flüchtlingslage auf Lesbos machen. „Die Strände sind voll davon“, erklärt Andrea Wegener, „es gibt sogar ein paar Leute, die aus den kaputten Westen Laptop-Taschen herstellen und sie verkaufen, um damit an die Lage hier zu erinnern.“ Wegener ist die organisatorische Leiterin von Euro-Relief, einer der 90 Nichtregierungsorganisationen, die auf Lesbos tätig sind und ohne die hier gar nichts funktionieren würde. Über ihre Erlebnisse hat Andrea Wegener das Buch „Wo die Welt schreit“ geschrieben, idea hat sie 2019 als eine der „Christen des Jahres“ ausgezeichnet.

 

Die Lage hat sich verschlimmert

„Mein Buch würde ich heute anders schreiben“, seufzt sie. „Wie?“ „Schlimmer! Seit letztem Jahr hat sich die Lage noch einmal massiv verschärft.“ Vor dem Abkommen der Europäischen Union (EU) mit der Türkei waren die griechischen Inseln Durchgangsstationen zum Festland, jetzt sitzen die Menschen hier fest. Es dauert Wochen, bis die Prüfung abgeschlossen ist, ob sie in die Türkei zurückgebracht werden. Und der Asylantrag zieht sich über Monate, einige Flüchtlinge sind seit Jahren in der Warteschleife im Camp.

21.000 Afghanen, Syrer oder Somalier warten auf Lesbos, das selber nur 80.000 Einwohner hat. Auf Samos sind es sogar 7.000 Flüchtlinge bei 7.000 Stadtbewohnern. Die Nähe zur Türkei macht die Inseln zum einfachsten Weg nach Europa. Jede Nacht landen Schlauchboote am Ufer. Boote für 20 Personen, gefüllt mit 50, 60 Menschen. Nicht alle kommen direkt durch. Viele werden von der türkischen Küstenwache aufgehalten und zurückgebracht. Andere sinken. Allein seit November 2019 sind 34 Menschen ertrunken.

Generalstreik: Handelt endlich!

Bei unserer Ankunft sind die Geschäfte geschlossen, der Müll stapelt sich in den Gassen. Lesbos hat zum Generalstreik aufgerufen. Der Platz vor dem Theater ist überfüllt. 6.000 Menschen sind zur Kundgebung gekommen. Sie fordern von der Regierung und der EU, endlich zu handeln.

Die Lesbier sind geschichtsbewusst. Jahrhunderte wurde die Insel von den Türken beherrscht, die griechisch-orthodoxen Christen von Muslimen unterdrückt. Diese Erinnerung lebt, und so wurden die ersten Flüchtlinge aus der Türkei mit Brot und Salz in Empfang genommen, einer traditionellen griechischen Willkommensgeste.

Längst ist das Klima umgeschlagen. Das Flüchtlingslager Moria, wenige Kilometer außerhalb der Hauptstadt Mytilene, ist für 3.000 Menschen ausgelegt. Es platzt aus allen Nähten. Die Flüchtlinge lassen sich auf den anliegenden Olivenhainen nieder – ohne Strom, weitgehend ohne Wasser und Abwasser. Um sich zu wärmen, holzen sie die Wälder ab, der Kahlschlag frisst sich in die Hügel hinein.

Wie ein Slum in Nairobi oder Mumbai

Andrea Wegener bringt uns ins Camp. Es ist, als liefen wir durch einen Slum in Nairobi oder Mumbai. Dicker Rauch von verbranntem Plastik beißt in der Lunge. „Ist das hier noch zweite oder schon dritte Welt?“, wurde Wegener von einer prominenten Besucherin aus den USA gefragt. „Weder noch, es ist die Europäische Union.“

Euro-Relief ist für die Erstaufnahme zuständig. Die Flüchtlinge werden registriert und mit Hygieneartikeln und einer Garnitur Bekleidung ausgestattet. Auch das „Housing“, die Zuweisung in die Zelte, übernimmt die kleine NGO. Doch alle offiziellen Plätze sind voll. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Ankommenden ein Wurfzelt in die Hand zu drücken, und sie in die Olivenhaine zu schicken.“ Andrea Wegener hebt die Schultern. Sie erzählt von einer alleinstehenden Mutter, die mit sechs Kindern im Lager eintraf – und deren Zelt schon in der ersten Nacht aufgeschnitten wurde. Sie konnten den Mann abwehren. Doch täglich gibt es Vergewaltigungen. Wer nicht schon vor oder während der Flucht traumatisiert war, der wird es hier. 1.000 Schwangere leben im Camp. Unbegleitete Minderjährige und Frauen sind Freiwild. Während unseres Aufenthalts hebt die Polizei einen geheimen Bordell-Container aus. Die Gesetze gewähren Gruppen, die besonders verletzlich sind, speziellen Schutz, eine gesicherte separate Unterbringung. Doch was nützt ein gesetzlicher Anspruch, wenn die Kapazitäten nicht vorhanden sind? Es gibt Plätze für 350 unbegleitete Minderjährige, doch tatsächlich leben 1.200 im Camp. Leichte Beute für Menschenhändler, schnell verfügbare Drogenkuriere.

Was ist politisch zu tun?

Wir sprechen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und verschiedenen NGOS. Was ist politisch zu tun? Die Liste ist lang: ein abgestimmter Aufnahmeschlüssel der EU. Nicht nur Geld bereitstellen, sondern vor Ort konkreter helfen. Die griechischen Behörden sind personell und fachlich total überfordert, nur durch die Hilfsorganisationen funktionieren die praktischen Abläufe. Es fehlen Dolmetscher, die Verfahren ziehen sich in die Länge. Für große Verunsicherung sorgt das neue Asylgesetz Griechenlands, das die Verfahren beschleunigen soll, aber faktisch verhindert, Dokumente nachzureichen oder Widersprüche einzulegen. Wer keinen Anwalt hat, fällt durchs Raster. Dabei kommen etwa 90 % der Asylsuchenden aus Bürgerkriegsgebieten, der Flüchtlingsstatus ist eindeutig.

 

„Bitte, betet für uns“

Kann es in diesem Elend Orte der Hoffnung geben? Das Camp Moria bietet humanitäre Hilfe, Missionstätigkeit ist untersagt. Aber natürlich sind die Menschen frei, christliche Angebote in der Nähe wahrzunehmen. Im Begegnungszentrum Oasis, der Ini­tiative i58 (nach Jesaja 58 „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“) treffen wir fünf Konvertiten, ehemalige Muslime, die Christen geworden sind. An zwei Punkten gleichen sich ihre Geschichten. Sie haben sich nach Gewalttaten radikaler Muslime vom Islam abgewendet – die Hilfsbereitschaft der christlichen Flüchtlingshelfer hat sie neu nach Gott suchen lassen. Zwei Frauen erzählen uns von der Freiheit, die sie jetzt erleben. „Im Iran hieß es, Frauen hätten nur ein halbes Gehirn. Hier werden wir gleichwertig behandelt.“ Anders ist die Situation im Lager: Die Konvertiten werden beleidigt und bedroht. „Aber wir gehören jetzt zu Jesus, auch Jesus hat gelitten. Er wird einen Ausweg für uns finden.“

„Was können wir für euch tun?“, fragen wir, aufgerüttelt von den Bildern und Geschichten. „Erzählt von den Zuständen auf Lesbos, die Öffentlichkeit muss erfahren, wie groß die Not ist. Und bitte, betet für uns.“

Anmerkung AKREF: siehe auch Bericht von pro vom 25.1.20