03.12.2011
Türkei: Die Erstellung eines Entwurfs einer neuen Verfassung
und deren Auswirkungen auf die Religions- bzw. Glaubensfreiheit Von Mine Yildirim, Ǻbo Akademi University (gekürzte deutsche Fassung)
Türkei: Die Erstellung eines Entwurfs einer neuen Verfassung
und deren Auswirkungen auf die Religions- bzw. Glaubensfreiheit
Von Mine Yildirim, Ǻbo Akademi University
(gekürzte deutsche Fassung)
Die Erstellung eines Entwurfs einer neuen Verfassung der Türkei hat Erwartungen hervorgerufen, dass dieser Prozess zu Fortschritten beim Schutz der Religions- bzw. Glaubensfreiheit führen würde. Viele Fragen bleiben offen und die möglichen Antworten, die während der Entwurfsphase gegeben werden, müssen genau verfolgt werden. Es gibt eine Vielzahl von strittigen Fragen, die eine Auswirkung auf den rechtlichen Rahmen für den Schutz der Religionsfreiheit haben.
Zu den wichtigsten offenen Fragen gehören folgende:
Wird das dem Premierminister unterstehende Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) weiterhin eine verfassungsmäßige Körperschaft bleiben?
Wird die durch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Freiheit der Bürger, ihre Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Unterricht und Beachtung religiöser Gebräuche öffentlich oder privat auszuüben ausdrücklich geschützt?
Wird „laiklik“, oft vielleicht irreführend mit Säkularismus übersetzt, in der neuen Verfassung beibehalten?
Wird Artikel 174 („Bewahrung der Reformgesetze“) der heutigen Verfassung von 1982 gestrichen oder neu interpretiert?
Es ist von existentieller Bedeutung, dass die neue Verfassung umfassende Garantien der Religions- bzw. Glaubensfreiheit für alle, auch für Agnostiker und Atheisten, enthält, wie dies den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen der Türkei entspricht. In dieser Hinsicht ist eine Reform, nicht nur der Verfassung, sondern auch bestimmter Gesetze, erforderlich. Denn eine Verfassung allein, ohne gute Gesetze und Verordnungen und ohne angemessenes Handeln des Staates kann nur eine begrenzte Auswirkung im Sinne praktischer Veränderungen im täglichen Leben der Angehörigen von Minderheitsreligions- bzw. Gesinnungsgemeinschaften entfalten.
Der Prozess
Der verfassungsmäßigen Versöhnungskommission (türkische Abkürzung „AUK“) unter dem Vorsitz des Sprechers der Großen Nationalversammlung (d. h. des Parlaments), Cemil Cicek, wurde die Aufgabe der Erstellung eines Verfassungsentwurfs übertragen. Die Mitglieder der AUK kommen aus der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der größten Oppositionspartei der Republikanischen Volkspartei (CHP), weitere Mitglieder aus der oppositionellen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) und der Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Dass Entscheidungen der mit der Erstellung des Verfassungsentwurfs betrauten AUK einstimmig getroffen werden müssen, ist von größter Bedeutung und nährt die Hoffnung, dass die neue Verfassung breite Zustimmung finden wird. Themen, bei denen keine einstimmige Entscheidung erzielt werden kann, werden zu einem späteren, nach Ansicht der AUK geeigneten Zeitpunkt erneut behandelt.
Die AUK scheint sehr darauf bedacht, diesen Prozess offen für Beiträge von allen Sektoren der Gesellschaft, einschließlich politischer Parteien, verfassungsmäßiger Organisationen, Berufsorganisationen, Gewerkschaften, NGOs, Stiftungen und Religionsgemeinschaften, zu gestalten. Die Arbeit der AUK wird in drei Phasen erfolgen. Die erste Phase besteht in der Beteiligung der Öffentlichkeit einschließlich der Entgegennahme von Beiträgen, Erfassung und Beurteilung von Daten. Diese Phase soll bis Ende April 2012 abgeschlossen sein.
Danach werden die Prinzipien und ein Textentwurf der Verfassung festgelegt, gefolgt von der dritten Phase der öffentlichen Debatte über diese plus Veränderungen nach der öffentlichen Diskussion. Die AUK hat sich zum Ziel gesetzt, ihre Arbeit bis Ende 2012 zu beenden und diese der Generalversammlung des türkischen Parlaments, der Großen Nationalversammlung, zur Debatte vorzulegen.
Obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, dass die neue Verfassung alle Probleme der Türkei im Hinblick auf die Respektierung der Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit lösen wird, kann der Prozess selbst äußerst hilfreich sein, um Fortschritte auf dem Weg dorthin zu erzielen.
Erstens kann der Prozess dazu beitragen, eine Mentalitätsänderung in der Auffassung von der türkischen Identität herbeizuführen. Die derzeitige Haltung der Nationalisten - einer einflussreichen Kraft in Staat und Gesellschaft, sieht „Bedrohungen“ durch „andere“, die nicht in das nationalistische Klischee der türkischen Identität passen, auch durch nicht sunnitische Moslems
Zweitens kann der Prozess zu einer öffentlichen Debatte über die Bestimmungen der derzeitigen Verfassung und Gesetze führen, welche verhindern, dass die Menschen in der Türkei ein umfassendes Recht auf Religions- bzw. Glaubensfreiheit haben.
Auf dem Weg zu einer Mentalitätsänderung?
Als möglicherweise wesentlichster Beitrag des Prozesses zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung könnte sich die Förderung der öffentlichen Akzeptanz für eine pluralistische Politik des Staates und eine pluralistische Sichtweise der Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern erweisen. Die derzeitige Verfassung verherrlicht den Staat zu Ungunsten des Respekts für den Einzelnen und privilegiert den türkischen Nationalismus. Die öffentliche Debatte über eine neue Verfassung und die Beiträge der NGOs und der Minderheiten tragen zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft bei. Das fördert eine Mentalitätsänderung im Sinne der Anerkennung der Vielfalt in der türkischen Gesellschaft.
„Laiklik“ oder türkischer Säkularismus
„Laiklik“, der türkische Säkularismus, hat eine große Auswirkung auf den Schutz der Religions- bzw. Glaubensfreiheit. Die Bedeutung dieses Begriffs unterscheidet sich wesentlich von der des französischen Begriffs „laiceté“ und vom weit verbreiteten Verständnis von „Säkularismus“ außerhalb der Türkei. Laiklik genießt als Prinzip der Verfassung von 1982 besonderen Schutz und wird als „Trennung von Staat und Religion“ definiert. Doch in der Praxis geht es viel mehr um den Schutz des Staates vor dem Einfluss der Religion durch strenge staatliche Überwachung religiöser Aktivitäten und geringere Autonomie der Religionsgemeinschaften als in anderen Ländern. Das größte Problem im Zusammenhang mit Laiklik ist, dass das Wort nicht nur eine, sondern mehrere Bedeutungen hat und von verschiedenen politischen Parteien mit verschiedener Bedeutung verwendet wird.
Der Entwurfsprozess gibt der AKP als Regierungspartei die Chance, ihre eigene Version von Laiklik festzuschreiben. Premierminister Recep Tayyip Erdogan sagte in mehreren Reden, die er auf seiner Reise in Länder des Arabischen Frühlings hielt, dass Laiklik für ihn bedeutet, dass der Staat gleiche Distanz zu allen Religionen wahrt. Gleichzeitig bekannte er sich zu seiner eigenen religiösen Identität als Moslem. Wenn man diese Aussagen jedoch mit der Politik der AKP in Sachen Religionsfreiheit in den letzten Jahren vergleicht, ist keineswegs klar, was die wahre Meinung der AKP ist.
Bei der Festlegung der Definition von Laiklik in der neuen Verfassung wird es darum gehen, einen Ausgleich zwischen den Forderungen der Konservativen, Nationalisten und Säkularisten zu finden, da jede der genannten Gruppierungen diesen Begriff anders auslegt. Weiters werden völkerrechtlich bindende Normen, darunter auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen sein, welche eine neutrale Rolle des Staates fordern. Konkret werden viele Fragen zu klären sein, darunter die Rolle des Diyanet, der bisher verpflichtende Religionsunterricht an den Schulen, die verpflichtende Eintragung der Religionszugehörigkeit in Personalausweisen, das öffentliche Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft z.B. durch Tragen des Kopftuchs in Schulen und am Arbeitsplatz und der rechtliche Status bzw. die Rechtspersönlichkeit von Religions- und Gesinnungsgemeinschaften.
Die größte Oppositionspartei, die CHP, mit der Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Republik, die Türkei für viele Jahre zum Einparteienstaat machte, tritt am vehementesten für Laiklik ein. Für eine relevante Gruppe von Kemalisten bedeutet Laiklik, den Einfluss der Religion - insbesondere des Islams - auf den Staat einzuschränken, indem der Staat die Ausübung der Religionsfreiheit einschränkt. Dieses Verständnis von Laiklik fördert eine Politik, die religiöse Bekundungen im öffentlichen Raum ausschließt. Und viele in der CHP wollen, dass das so bleibt.
Für die Auslegung von Laiklik in der neuen Verfassung ist auch wesentlich, ob der Artikel 174 der derzeitigen Verfassung „Bewahrung der Reformgesetze“ gestrichen oder neu interpretiert wird. Dieser Artikel verbietet, die Verfassung so auszulegen, dass dadurch konkret genannte Reformgesetze, die den sekulären („laik“) Charakter des Staates garantieren, für verfassungswidrig erklärt werden. Die Reformgesetze zielen auf den aktiven Schutz von Laiklik ab, so wie die Gründer der Republik diesen Begriff verstanden haben, und sehen u.a. die zwingende staatliche Kontrolle jedes Religionsunterrichts vor, verbieten das Tragen bestimmter mit dem Islam assoziierter Kleidungsstücke, und verfügten die Schließung der Derwischklöster und der Gebetsstätten der Aleviten, einer Gemeinschaft, die vielleicht Drittel der türkischen Bevölkerung umfasst.
Eine wesentliche Menschenrechtsfrage, die in der neuen Verfassung einer Lösung zugeführt werden muss, ist die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Diese stand jedoch lt. Premierminister Erdogan „noch nie auf unserer Tagesordnung“. In den türkischen Medien wurde berichtet, dass ein neuer Gesetzesentwurf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Verbrechen definiert, das mit Ableistung öffentlicher Dienstleistungen während eines Zeitraums, der etwa zwei Mal der Dauer des verpflichtenden Militärdienstes entspricht, bestraft wird. Danach würde der Militärdienst des „Verbrechers“ als abgeleistet gelten.
Was kann man von der neuen Verfassung erwarten?
Mit all den Möglichkeiten für den Schutz der Religions- und Glaubenfreiheit, die der Prozess der Erstellung einer neuen Verfassung mit sich bringt, ist man versucht, eine revolutionäre Veränderung zu erwarten. Doch die jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerern, ständige Probleme aufgrund von Gesetzen und Praktiken und der Mangel an politischem Willen, eine dauerhafte Lösung zu entwickeln, legen nahe, dass eher Vorsicht angebracht wäre. Vielleicht wird diese neue Verfassung kein riesiger Schritt in Richtung einer freieren Türkei, falls die offenen Fragen nicht am Kern angegangen werden. Doch sie wird hoffentlich besser als die derzeitige Verfassung.
Quelle: Forum 18, Oslo
Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der ÖEA