02.01.2011
Ägypten: Tödliches Mittel zum Zweck
Gezielte Destabilisierung in Ägypten
Wok. ⋅ Der blutige Anschlag auf koptische Gläubige in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria markiert eine unheilvolle Entwicklung im Nilland. Sowohl der Zeitpunkt wie auch die Art und Weise des Attentats lassen auf eine gezielte Destabilisierung im grössten muslimischen Land des Nahen Ostens schliessen.
Was in der Neujahrsnacht in der Kirche der Heiligen geschah, erinnert unweigerlich an die Serie von Anschlägen auf Angehörige der christlichen Minderheit im Irak vor zwei Monaten, die mit dem Angriff auf die chaldäische Kirche in Bagdad einen traurigen Höhepunkt erreicht hatte. Die schattenhaften Urheber dieser Bluttat sind im Umfeld überregionaler sunnitischer Terrorgruppen zu suchen. Die Organisation Islamischer Staat im Irak hatte damals zum Feldzug gegen Christen aufgerufen. Anlass boten zwei zum Islam konvertierte ägyptische Christinnen, die angeblich gegen ihren Willen in einem koptischen Kloster festgehalten wurden.
Die künstlich hochgespielte Episode bot Anlass, bestehende gesellschaftliche Brüche zu vertiefen. In allen nahöstlichen Ländern mit christlicher Minderheit stehen Christen unweigerlich im Ruf einer ideellen Nähe zur westlichen Welt. Dies umso mehr, seit sich der Krieg gegen Terror pauschal auf die Abwehr gewalttätiger Islamisten reduziert und die Ursachen religiös begründeter Gewaltbereitschaft ausblendet.
In Ägyptens gelenkter Demokratie hat sich das soziale Klima in den letzten Jahren radikalisiert. Periodisch ausbrechende Gewalt zwischen Kopten und Muslimen ist Ausdruck einer steigenden Spannung, die in weit mehr als nur konfessionellen Gegensätzen gründet. Das hauptsächliche Malaise besteht in einer Gesellschaftsordnung, die den Millionen von Hochschulabgängern nur so lange Perspektiven bietet, als sie zu einem Mitmachen in Mubaraks Klientelwesen willig und fähig sind. Seit dem jüngsten Urnengang im Herbst ist selbst die symbolische Opposition aus dem Parlament verschwunden. Die Muslimbrüder als die mit Abstand wichtigste Oppositionskraft sehen sich bestätigt, mehr denn je einen Kurs der Klandestinität zu verfolgen.
Die Wut über den autoritären, als unfähig und korrupt empfundenen Staat geht weit über das Lager der Islamisten hinaus. Manche Christen wittern in Mubaraks System eine gezielte Marginalisierung aller Kopten. Ihre Wut drückte sich unmittelbar nach dem Attentat in Kundgebungen aus, worin sie einen besseren Schutz ihrer kirchlichen Einrichtungen forderten.
Selbst wenn Mubarak in seinem 80-Millionen-Staat die Sicherheit für die rund 8 Millionen Christen verstärken sollte, ist mit künftigen Anschlägen zu rechnen. Das Kalkül der Attentäter von Alexandria zielt darauf, im Vorfeld der im September stattfindenden Präsidentschaftswahl jene Instabilität zu erzeugen, die für ein Ende der Ära Mubarak Voraussetzung ist. Dazu einen Krieg der Gläubigen anzuzetteln, ist nicht ihr Ziel, sondern Mittel zum Zweck.
Neue Zürcher Zeitung